Lesen in Zeiten des Krieges

Das neue Jahr 2021 beginnt mit einer echten Novität: Zum ersten Mal seit 44 Jahren müssen wir die Inventur ohne die Hilfe von Freundinnen und Freunden durchziehen. Wo sonst viele helfende Hände auf die Tasten der Rechenmaschinen hauen, zählen wir dieses Mal allein. Das dauert.

Die Pandemie hat Jahrestag und im März 2021 dürfen wir endlich wieder den Buchladen öffnen. Nach Monaten der Schließung – zum Glück war in Hamburg wenigstens das Abholen bestellter Bücher vor der Ladentür erlaubt – dürfen wir wieder unsere Kundinnen und Kunden im Buchladen begrüßen. Das ist uns fast ein wenig fremd geworden und macht deshalb umso glücklicher, warten doch die schon lange eingekauften tollen Bücher unabhängiger Verlage auf neugierige Augen. Ein guter Zeitpunkt für uns, auch handwerklich tätig zu werden. In Bad und WC ist alles okay. Wir erneuern unsere Hinterzimmer und – wo wir gerade dabei sind – in Wochenendarbeit auch unser Büro. Nicht zuletzt deshalb, um die neue Technik unterzubringen, die wir dank einer großzügigen Förderung von „Neustart Kultur“ anschaffen konnten.

Die Abozahlen für unseren Newsletter explodieren, es gibt Zeit zum Lesen und wir liefern regelmäßig Lesetipps. Zur Belohnung erreicht uns eine tolle Nachricht: Wir erhalten den „Deutschen Buchhandlungspreis 2021“! Im Juni überreicht uns Monika Grütters im Kaisersaal zu Erfurt, wo einst die Sozialdemokratie ihr gleichnamiges Programm verkündete, die Auszeichnung. Viel Ehre und Entspannung für unser Konto zugleich. Jubel!

Doch traurige Momente gibt es auch. Am 10. Juli erreicht uns die Nachricht vom Tod der Antifaschistin, Zeitzeugin und langjährigen Buchladenfreundin Esther Bejarano. Viele Veranstaltungen haben wir gemeinsam bestritten. Sie wird fehlen. Nicht nur uns.

Die Landespressekonferenz mit dem Ersten Bürgermeister wird regelmäßig mit Spannung erwartet, hängt an den Ausführungsbestimmungen der jeweiligen aktuellen Pandemie-Bestimmungen das Wohl oder Wehe des Buchladens: „Abholung bestellter Ware vor der Ladentür erlaubt …“

Covid hat Sommerferien, es ergeben sich vorsichtig Zeitfenster für echte Begegnungen. An den Augustabenden zieht der Buchladen auf den Kiez, um die Open-Air-Lesungen im Hinterhof des St. Pauli-Theaters zu begleiten. Da zwar Ferien sind, jedoch nur wenige reisen, wird weiterhin gelesen und gekauft.

Ausfallen müssen auch in diesem Jahr unsere beliebten Buchvorstellungsabende mit Weinprobe. „Texte und Tannine“ als Onlineveranstaltung perlt halt nicht so richtig. Dafür gehen wir gleich zweimal ins Kirchenasyl: Doris Gercke und Robert Brack lesen in der St. Pauli-Kirche am Pinnasberg aus ihren aktuellen Büchern.

Ein Jahresfazit: Weihnachten zu Hause statt auf den Skipisten der Alpen ist unser Schaden nicht.

Das Jahr 2022 startet gleich mit neuen Herausforderungen und weltpolitischen Verwerfungen. Schon wieder verlässt uns eine Kollegin in den Ruhestand und die erneute Suche nach einer engagierten neuen Kollegin beginnt. Beginnen tut auch ein Krieg mitten in Europa, verbunden mit erregten Debatten, Zukunftsängsten und steigender Inflation. Auch für unsere Branche sind das nicht die besten Aussichten.

Doch es gibt auch Highlights: Anfang Juni beehrt uns der Fußballweltmeister Lilian Thuram mit seinem Besuch und stellt am Millerntor sein kluges Sachbuch „Das weiße Denken“ vor. Hunderte Gäste strömen zur Lesung, diskutieren engagiert und auch der Umsatz am Büchertisch ist wahrhaft weltmeisterlich. Im September haben wir Annika Büsing im Rahmen der „Langen Nacht der Literatur Hamburg“ bei uns zu Gast. Ihr Debütroman „Nordstadt“ wird bei uns zum meistverkauften Buch des Jahres 2022 werden. Und weil dieser Abend schon so schön begann: Danach wurde uns in der Hamburger Kunsthalle der Preis „Hamburger Buchhandlung des Jahres“ verliehen! Ein Preis für uns dank euch! Und flugs geht es – nach einem hochverdienten Urlaub – ins so wichtige Weihnachtsgeschäft, leider in personeller Unterbesetzung. Nicht zuletzt deshalb lassen wir nach einem erfolgreichen (und sehr aufreibenden) Weihnachtsgeschäft Punkt 13 Uhr im Buchladen die Korken knallen. Das haben wir uns verdient!

Wo anfangen mit den Herausforderungen im neuen Jahr 2023? Als da wären: eine Inflation, unkalkulierbare Heizkosten, Personalsuche, ein neuer Vermieter, einige unterperformende Verlagsauslieferungen, eine Großbaustelle vor der Tür (ja, Eigentumswohnungen, natürlich!). Wir reagieren wie gewohnt: mit Engagement und Kreativität. Und mit einer Veranstaltungsoffensive. Gleich mehrere Lesungen zum Thema Erinnerungspolitik (schon immer eine Kernkompetenz des Buchladens) locken ein interessiertes Publikum in unsere Räume. Danach ist Urlaub, und zwar für uns alle. Zum ersten Mal in 45 Jahren Buchladengeschichte machen wir für zwei Wochen Betriebsferien. Eine weise Entscheidung, denn – bei aller Liebe zum Beruf – wir wollen ja nicht im Buchladen umfallen.

Im Juni wird das Wetter schön, beide Hamburger Fußballvereine haben erfreulicherweise souverän den Zeitliga-Klassenerhalt geschafft und unsere legendären Buchvorstellungsabende mit Weinprobe sind seit Wochen ausverkauft. Es ist also nicht alles schlecht!